Sensibel mit anderen Sinnen
In der Klinik im Hofgarten geht der Therapeut Felix Wagner trotz einer starken Seheinschränkung erfolgreich seinem Beruf nach. Er erzählt, wie er trotz dieser Einschränkung im Berufsalltag zurechtkommt.

Als Physiotherapeut kann Felix Wagner selbstständig arbeiten, trotz Seheinschränkung.
Behutsam steigt die junge Frau die Stufen eines schummrigen Treppenhauses hinauf; hinter ihr ein Mann in weißer Hose, grünem Hemd und mit Brille, der konzentriert auf ihre Füße blickt, mit seinen Händen ihr Knie ertastet und fühlt, ob es gerade steht. Felix Wagner ist Physiotherapeut in der Klinik im Hofgarten in Bad Waldsee. Ein 30 Jahre alter, besonnen wirkender Mann. Mit einer Besonderheit: Er ist in seiner Sehfähigkeit eingeschränkt.
Felix Wagner hat einen Gendefekt. Die Zellen auf seiner Netzhaut werden abgebaut und fehlen bei der Verarbeitung von einfallendem Licht. Für ihn fühlen sich helle Räume so an, als schaute er direkt in gleißendes Licht. Darum das schummrige Treppenhaus: Hier kann er besser sehen. Im Alter von 13 Jahren machte sich die Erkrankung erstmals bemerkbar, mit 20 wurde es rapide schlimmer. Seit ein paar Jahren verläuft die Entwicklung stetiger; die Sehleistung verschlechtert sich weiter, aber deutlich langsamer. Doch Felix Wagner lässt sich davon nicht unterkriegen. „Man darf sich von einem Handicap nicht beeinträchtigen lassen“, sagt er. „Man muss andere Wege finden.“ Das sei sein Lebensmotto.
Ein Mittwoch im Oktober, später Nachmittag. Auf seiner Liste mit den Patientinnen und Patienten des Tages steht die junge Frau aus dem Treppenhaus. Felix Wagner tippt ihren Namen in die Datenbank. Auf dem Bildschirm erscheinen alle relevanten Informationen über sie – in weißer Schrift auf dunklem Hintergrund, um ein Siebenfaches vergrößert von einer speziellen Software. Nur so kann er alles erkennen. Felix Wagner tastet mit seinem weißen Langstock über den Fußboden, geht zur Tür und bittet die Patientin herein.

Kann Assistenzhund Ecco mit in die Klinik? Eine Runde aus Expertinnen und Experten klärte solche Fragen vorab.

Felix Wagner nutzt Hilfsmittel wie eine speziell entwickelte Software, um Informationen stark vergrößert zu lesen.
Auf Gehhilfen gestemmt, betritt die Frau das Zimmer, stellt die Stützen in eine extra dafür vorgesehene Vorrichtung, setzt sich auf die Liege und legt sich auf den Rücken. Felix Wagner hängt seinen Langstock an die Wand, dreht den Kopf zu Ecco, seinem Assistenzhund, einem schwarzen Labrador, der ruhig in seiner Transportbox in der Ecke döst. Dann beginnt der Physiotherapeut die Behandlung. Eine Sitzung verlaufe meist nach ähnlichem Muster, sagt er. Erst schaue er, ob es Verspannungen gibt. Dann löse er sie. Dann demonstriere er Übungen, deren Schwierigkeitsgrad davon abhängt, in welchem körperlichen Zustand die Patientin oder der Patient ist. Therapeutinnen und Therapeuten ohne Seheinschränkung erkennen Probleme mitunter auf den ersten Blick. Felix Wagner muss über andere Wege herausfinden, wo es Schwierigkeiten gibt.
Er schiebt eine kleine Rolle unter das linke Knie der Frau; tastet ihren Oberschenkel ab, dann das Knie. Ist es warm oder kalt, gibt es Verhärtungen? Dann lässt er die Patientin das Gesäß anheben. Mit seinen Fingern fühlt er am Rücken, ob das Gesäß dabei gerade bleibt oder eine Gesäßhälfte absackt. Ein Therapeut oder eine Therapeutin ohne Einschränkung würde das sehen können. Felix Wagner erfühlt es. Dann verlassen sie das Behandlungszimmer und gehen zurück in den Flur. Die Frau vorneweg, Felix Wagner knapp hinter ihr. Er lässt sie ein paar Schritte laufen. Im Flur ist es etwas dunkler als im Behandlungsraum. Er kann ihren Gang hier besser beobachten, ähnlich wie im Treppenhaus.

Aus dem Geräusch der Stützen einer Patientin zieht Felix Wagner seine Schlussfolgerungen für die Physiotherapie.
Das Geräusch der Stützen erkennen
Den Rest macht er mit den Ohren. Felix Wagner hört genau hin, wie die Frau die Stützen auf den Boden aufsetzt. Ist es ein kurzes, sanftes Stupsen? Dann macht sie es richtig, mit dem Gewicht auf den Beinen. Ist es ein hartes, lautes Klacken? Dann stützt sie ihr ganzes Körpergewicht auf die Stützen; meist ein Zeichen, dass sie noch unsicher beim Gehen ist. Für eine Patientin oder einen Patienten, der oder die das Knie schon voll belasten sollte, wäre das ein schlechtes Zeichen. Felix Wagner sagt, er lege einfach mehr Fokus auf Sinne wie Hören und Tasten als seine Kolleginnen und Kollegen ohne Seheinschränkung. So bekomme er Informationen, die ihm sonst entgehen würden. „Schlussfolgern“ nennt er das. Felix Wagner kommt aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Stuttgart. Nach der Realschule probierte er verschiedene Jobs aus. Er arbeitete als Landschaftsgärtner, in einer Baumschule und als Lagerist. Er war kurz davor, eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann zu beginnen, und wollte eigentlich nur die Zeit bis zum Start überbrücken. Deshalb machte er ein Praktikum in einer städtischen Rehaklinik.
Dort merkte er: Er mag das Arbeiten mit den Händen, den Umgang mit Menschen und die Abwechslung. Vor allem: Dass er als Physiotherapeut selbstständig arbeiten kann, nicht auf Hilfstätigkeiten beschränkt ist. 90 Prozent der anfallenden Tätigkeiten könne er allein verrichten, sagt er, nur selten sei er auf Hilfe angewiesen. Er fällte eine Entscheidung und wurde Therapeut. Felix Wagner machte eine dreijährige Physiotherapie-Ausbildung an einer Schule für sehbehinderte Menschen in Nürnberg. Im Anschluss arbeitete er in einer ambulanten Rehaklinik, später in einer Physiotherapiepraxis. Dann las er die Annonce der Klinik im Hofgarten: Physiotherapeutin/Physiotherapeut gesucht. Er bewarb sich und fing im April 2023 in der Rehaklinik an. Die meisten Patientinnen und Patienten haben eine OP hinter sich, am Knie oder am Rücken. Sie bleiben im Schnitt vier Wochen. „In dieser Zeit sieht man Fortschritte“, sagt Felix Wagner. Er mag das, ebenso die geregelten Arbeitszeiten.
Zuschuss für Hilfsmittel
„Er war sehr gut qualifiziert“, sagt Eva Pongratz aus der Marketingabteilung der Klinik. „Deshalb haben wir ihn eingestellt.“ Dennoch galt es zunächst, aufkommende Fragen zu klären und Bedenken aus dem Weg zu räumen. Gibt es unter den Patientinnen und Patienten oder Kolleginnen und Kollegen möglicherweise Menschen, die ein Problem mit seinem Assistenzhund haben – sei es aus Angst oder auch wegen Allergien? Können die Hygienestandards einer Klinik eingehalten werden, wenn ein Hund regelmäßig im Gebäude ist? Welche technischen Hilfsmittel müssen angeschafft werden, und was kostet das? Zunächst gab es Gespräche mit einer Hygieneexpertin und der IT-Abteilung der Klinik. Ein Kreis, zu dem unter anderem Chefarzt, Klinikleitung, Personalabteilung, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung der Klinik gehören, kam schließlich zusammen, um abschließend über den Fall zu beraten.
„Die Patientinnen und Patienten mögen und schätzen ihn. Er hat ein gutes Einfühlungsvermögen.“
Eva Pongratz, Marketing
Und Patientinnen und Patienten, die anfangs skeptisch sind, wenn sie das erste Mal vor ihm stehen? „Denen erkläre ich ausführlich, warum einige Dinge bei mir länger dauern und ich mitunter mehr Fragen stellen muss als ein Therapeut, der ohne Einschränkung sehen kann“, sagt Felix Wagner. Es ist sein Anspruch, Menschen, die skeptisch sind, nicht sofort weiterzuschicken zu anderen Kolleginnen oder Kollegen – sondern dranzubleiben und sie mit seiner Fachkompetenz zu überzeugen.
Felix Wagner lässt sich auch in seiner Freizeit nicht von seinem Handicap ausbremsen. Er joggt regelmäßig mit einem Laufpartner. Einmal pro Woche geht er klettern. Sein Whatsapp-Profil zeigt ihn in einer Kletterhalle, etwa 14 Meter über dem Boden. „Es gibt viele Möglichkeiten, seine Ziele zu erreichen. Trotz Handicap“, sagt er. „Man muss nur aktiv danach suchen und auf Menschen zugehen.“