
Sein Wille versetzt Berge
Im Wahn auf alle Achttausender? „Letztlich hat der Unfall mein Leben gerettet“, sagt Thomas Lämmle.

Im Wahn auf alle Achttausender? „Letztlich hat der Unfall mein Leben gerettet“, sagt Thomas Lämmle.
Thomas Lämmle ist nach einem Unfall querschnittsgelähmt. Er kommt zur Reha in die Argentalklinik – und schafft anderthalb Jahre nach dem Unfall das Undenkbare: Mit Gehstützen erklimmt er den höchsten Berg Afrikas.
Sein Wille versetzt Berge
Thomas Lämmle ist nach einem Unfall querschnittsgelähmt. Er kommt zur Reha in die Argentalklinik – und schafft anderthalb Jahre nach dem Unfall das Undenkbare: Mit Gehstützen erklimmt er den höchsten Berg Afrikas.
Wenn Thomas Lämmle an den 23. April 2020 denkt, kommt da irgendwann ein Riss. Er erinnert sich, wie er sich um 4 Uhr morgens aufs Rad schwingt, den Gleitschirm im Gepäck. Wie er den Hochgrat, seinen „Hausberg“ im Allgäu, hinaufläuft. Wie er, auf dem Gipfel, ein Gespräch mit zwei Piloten beginnt, sie haben ebenfalls Gleitschirme dabei. Thomas Lämmle ist Höhenbergsteiger. Sein Ziel ist es, mit einem Gleitschirm vom Mount Everest zu fliegen. Dafür trainiert er. Doch er und die Piloten verquatschen sich. Er merkt nicht, wie der Wind sich dreht. Als er gegen Mittag zum Start ansetzt, erwischt ein Windstoß seinen Schirm, drückt eine Seite ein. Das Letzte, was er sieht: die Sonne, die direkt über den Bergen steht. Dann kommt der Riss.
Thomas Lämmle erwacht in einem Krankenzimmer. Überall Schläuche, Kabel, medizinisches Gerät. Er liegt auf der Intensivstation im Klinikum Ravensburg. Seine Wirbelsäule wurde durch den Aufprall in das Becken gerammt, das Becken war gesprengt, das Kreuzbein zertrümmert. Acht Stunden dauerte die Operation. Von Ravensburg aus geht es zunächst in die Fachkliniken Wangen zur neurologischen Reha. Nach sechs Wochen erfolgt die Verlegung in die Argentalklinik nach Isny-Neutrauchburg, beide gehören zu den Waldburg-Zeil Kliniken. Am 7. Juli 2020 liefert man ihn dort ein, im Liegen. Die Arme kann er bewegen, die Beine sind taub. Die Diagnose: niedere Querschnittslähmung. Rückblickend sagt er: „In schwachen Momenten hat es sich wie das Ende angefühlt.“

Vier Jahre nach der Diagnose trifft Thomas Lämmle erstmals wieder die Oberärztin Dr. Orsolya Imre.
Herzliches Wiedersehen von Ärztin und Patient
Über vier Jahre später, ein vernieselter Mittwoch. Thomas Lämmle steht vor dem Eingang der Argentalklinik. Ein lebendiger Mann in Jeans und blauem T-Shirt. Neben ihm eine blonde Frau: Dr. Orsolya Imre, Oberärztin der Klinik. Sie hat ihn damals betreut. Thomas Lämmle sagt: „Sie ist der Grund, dass ich wieder laufen kann.“ Der Umgang der beiden ist sehr herzlich, Dr. Imre ist für dieses Treffen extra aus der Elternzeit zur Klinik gekommen. „So sehen Sie also ohne Kittel aus“, sagt er an sie gewandt und lacht laut auf.
Thomas Lämmle ist ein sehr einnehmender Mensch. Einer, der auf andere zugeht. Auf seinem Rundgang durch die Klinik bleibt er immer wieder kurz stehen, grüßt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die er von damals kennt. Da ist so viel Energie, es dauert, bis einem auffällt, dass er das linke Bein etwas nachzieht. In seinem rechten Bein hat er wieder Gefühl, das linke ist unterhalb des Knies weiterhin taub. Der Höhenbergsteiger sagt, er sei damals vor dem Unfall „im Wahn“ gewesen. Immer höher, schneller, weiter musste es gehen. Den Mount Everest hatte er schon 2016 bestiegen, allein und ohne Sauerstoff. Danach zwei Achttausender innerhalb einer Woche, ebenfalls allein und ohne Sauerstoff. Irgendwann sagte er sich: Ich mache alle 14 Achttausender auf diese Art. „Hätte ich so weitergemacht“, sagt er heute, „wäre ich früher oder später an einem Achttausender ums Leben gekommen. Letztlich hat der Unfall mein Leben gerettet.“
Die Berge waren und sind sein Leben. Schon als Jugendlicher ist er im Alpenverein. Während seiner Bundeswehr-Zeit in den Alpen beginnt er ernsthaft mit Bergsport. Er studiert Sport, Geografie und Technik auf Lehramt, später Sportwissenschaften und Höhenphysiologie in den USA, München und Innsbruck. Eine Zeit lang arbeitet er als Ausbilder für die Bergschule des Deutschen Alpenvereins. Später wird er Lehrer an einer Realschule für Kinder mit Hör- und Sprachbehinderung. In den Ferien zieht es ihn immer in die Berge. Häufig auf den Kilimandscharo, an dem er als Ausbilder für die einheimischen Guides arbeitet und den er für seine Achttausender-Expeditionen zum Training nutzt. Sein Lieblingsberg, über 60-mal besteigt er ihn vor seinem Unfall.

„Beim Schwimmen habe ich mich frei gefühlt. Wie früher in den Bergen.“ Das Bewegungsbad war für Thomas Lämmle eine große Hilfe.
Ein guter Ort, umgeben von Bergen
Den ersten Monat nach dem Unfall habe er gebraucht, um zu realisieren, was geschehen ist. „Ich hatte 55 Jahre lang meinen Traum gelebt und bin auf Berge gestiegen“, sagt Thomas Lämmle. „Und plötzlich schien das vorbei. Das war hart.“ Dann aber keimte langsam ein Wunsch in ihm auf: Er wollte zurück auf den Kilimandscharo. Die meisten Menschen, denen er davon erzählte, hätten Mitleid mit ihm gehabt, sagt er. Nur seine Frau stand zu ihm. Und Dr. Imre. Sie ist eine sehr bedacht wirkende, bescheidene Frau. Fragt man sie, welchen Einfluss sie und ihr Team auf Thomas Lämmles Genesung hatten, antwortet sie nur: „Wir haben an ihn geglaubt.“
Dabei sieht es, als Thomas Lämmle in jenem Juli 2020 erstmals mit seinem Rollstuhl in ihrem Sprechzimmer steht, nicht gut für ihn aus. Die Muskeln, die dafür sorgen, dass ein Mensch stehen kann, haben bei ihm einen Kraftwert zwischen null und eins. Normal ist fünf. Zum Glück sind nicht alle Nerven durchtrennt, ein Teil ist nur beschädigt. Er erzählt beim ersten Gespräch über sich, über das Bergsteigen. Als Dr. Imre ihn nach seinem Therapieziel fragt, antwortet er: wieder auf dem Kilimandscharo stehen. Da denkt sie: Der Mann war ohne Sauerstoff auf dem Mount Everest. Der kriegt das hin.
In den folgenden zwei Monaten bekommt Thomas Lämmle eine Kombination aus Krankengymnastik und physikalischer Therapie. Er macht Kraftübungen, läuft, auf die Arme gestützt, am Barren entlang, den Blick auf den Spiegel gerichtet, um zu schauen, ob er richtig geht. Seine Füße spüren nichts mehr, deshalb muss er es sehen. Er benutzt den Trimm-dich-Pfad der Klinik, den Barfußgang im Wald, die Wassertretstelle. Am besten geht es ihm im Bewegungsbad. „Beim Schwimmen“, sagt er, „habe ich mich frei gefühlt. Wie früher in den Bergen.“ Die fehlen ihm. Manchmal fährt er mit dem Rollstuhl über das Klinikgelände, legt sich ins Gras, lässt den Blick über die Hänge schweifen. Einmal bleibt er mit seinem Rollstuhl stecken. Er muss das Personal rufen und wird zurückgeschoben. „Die haben hier ein Spitzenteam“, sagt er. „Spitzenärzte, Spitzenschwestern, Spitzenphysios. Und alles umgeben von Bergen. Ein guter Ort.“
Im September 2020 wird er entlassen. Er sitzt noch im Rollstuhl, kann mit Gehstützen und Pausen aber 500 Meter weit gehen. Im Mai 2021 kommt er für eine zweite Reha zurück. Zwischendurch hat er einen schwachen Moment, zweifelt. „Ich mache keine Fortschritte“ steht in der Mail, die er an Dr. Imre schickt. Ihre Antwort: „Nur Sie selbst können sich heilen. Glauben Sie nicht an das, was in der Diagnose steht.“ Auch heute noch wiederholt Thomas Lämmle Tipps, die sie ihm damals gegeben hat – wie den, jeden Morgen und jeden Abend zu denken: Ich werde wieder laufen können. „Auf diese Weise entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Körper und Geist“, erklärt er. „Der Körper ist bemüht, dieses Ungleichgewicht auszugleichen, und zieht nach.“ Zwischen beiden Rehas lässt er den Rollstuhl hinter sich und beginnt, auf Stützen zu gehen. Er besorgt sich einen Rucksack mit kleinem Hocker daran, wie Anglerinnen und Angler ihn haben. Darauf ruht er sich aus, wenn er umherläuft.

Mit „Gehen lernen am Barren“ beschriftete Thomas Lämmle ein Foto aus seiner Reha. Aus den Worten seiner Ärztin schöpfte er den Mut, trotz Lähmung an sich zu glauben.
Foto: Thomas Lämmle

Foto: Michael Scheyer

Im September 2021 brach Thomas Lämmle zum Kilimandscharo auf und erreichte tatsächlich den Gipfel.
Foto: Thomas Lämmle
Mit Krücken auf dem Kilimandscharo
Es zieht ihn auch wieder in die Berge. Er besteigt den kleinen Berg vor seinem Haus, dann den Hochgrat, auf dem er damals verunglückte. Für ihn kein Problem, sagt er, er verbinde nichts Negatives damit. Sein Hauptziel aber: der Kilimandscharo. „Er hat viel davon erzählt“, sagt Dr. Imre. „Ob er wirklich geht, wusste ich nicht.“ Doch dann, am 3. September 2021 früh am Morgen, öffnet sie eine Mail von ihm. Ein Foto ist angehängt: Thomas Lämmle auf dem Gipfel. Er reckt die Arme in die Luft, ein breites Grinsen im Gesicht. „Ich war eher stolz als überrascht“, sagt Dr. Imre heute. Es gibt einen Film über den Aufstieg, der Journalist Michael Scheyer hat ihn gedreht. „Kilimandscharo – diesmal mit Krücken“ heißt er, er lief in einigen deutschen Kinos.
Fragt man Thomas Lämmle, wie das möglich ist, als Mensch mit der Diagnose Querschnittslähmung den höchsten Berg Afrikas zu besteigen, sagt er: „Der Weg aus dem Rollstuhl heraus ist mit Schmerzen verbunden. Diesen Weg muss man aber gehen.“ Dann muss er los. In zwei Tagen fliegt er nach Tansania. Er hat dort die Non-Profit-Organisation Extrek-Africa gegründet. Sie unterstützt einheimische Familien, die vom Tourismus am Kilimandscharo leben. Die Idee kam ihm hier, während seiner Reha in der Klinik. Er und Dr. Imre umarmen einander. „Am Ende wird alles gut“, sagt er. „Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.“

Die Organisation
Thomas Lämmles Non-Profit-Organisation Extrek-Africa bietet Touren auf den Kilimandscharo an. Alle Gewinne bleiben in Tansania bei den Bergführern, Köchen und Trägerinnen und Trägern. Durch die Bergbesteigung versorgt jede und jeder Reisende fünf Familien mit einem Einkommen, von dem diese einen Monat leben können.